Rede zum 1. Mai 2010 in Rheine

Norbert Müller, stellvertretender Vorsitzender GEW NRW

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es treibt mich um, dass unsere Gesellschaft ganze Generationen junger Menschen ohne Perspektive ins Leben starten lässt. Das selektive Bildungssystem, der Mangel an Ausbildungsplätzen, das Abschreiben zahlreicher Jugendlicher als Verlierer, die angeblich kein Interesse mehr an Vermittlung haben, der Zwang junger ausgelernter Fachkräfte in Leiharbeit und prekäre Beschäftigung junger Menschen unter 30 Jahren als Regelfall sind nur einige Stichworte für ein Leben ohne Sicherheit.

Junge Menschen wollen und brauchen: Gerechtigkeit, Gemeinschaft und Sicherheit. Sie wünschen sich eine Gesellschaft, die ihnen Platz gibt - eine Zukunftsperspektive.

Das wollen sie und das wollen wir, die Gewerkschaften im deutschen Gewerkschaftsbund, für die Jugend und generell für alle Generationen, ob alt oder jung und unabhängig von sozialer Herkunft oder Zugehörigkeit.

Wir wissen, der Reichtum dieses Landes wird durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen, nicht durch Steuerflüchtige, Zocker, Investmentbanker, Hotelkettenbesitzer mit Steuergeschenken, Zumwinkels, Ackermanns und wie sie alle heißen.


Und deshalb fordern wir auch an diesem 1. Mai, unserem traditionellen Kampf- und Festtag:

Guter Arbeit für alle - Gerechte Löhne und einen starken Sozialstaat!

Gute Arbeit: Die Arbeitslosigkeit ist rücklaufend. Darüber könnte man froh sein. Doch ihr Rückgang wurde mit gravierenden Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt erkauft. Das, was da passiert hat mit der guter Arbeit ganz und gar nichts zu tun.

Inzwischen arbeiten 6,5 Millionen Menschen im Niedriglohnbereich, das sind 22 % aller Beschäftigten. Darunter 1,3 Millionen Vollzeitbeschäftigte, die auf ergänzende Leistungen nach ALG II angewiesen sind. Dass bedeutet: Deutschland ist - neben den USA - inzwischen Weltmeister bei Hunger- und Niedriglöhnen.

Darüber hinaus wird in vielen Bereichen fast ausschließlich noch befristet eingestellt. Und das betrifft gerade viele junge Leute. So arbeiten - bei steigender Tendenz - in der Altersgruppe von 20 - 25 mehr als ein Drittel in befristeten Arbeitsverhältnissen.Und die Leiharbeit, die ursprünglich nur Produktionsspitzen abfangen sollte, wird inzwischen massiv missbraucht.

Es darf doch nicht sein, dass Teile der Stammbelegschaft unter fadenscheinigen Vorwänden entlassen werden und die Zeitarbeitsfirma des eigenen Unternehmens sie zum halben Tariflohn wieder einstellt! Schlecker war bis zum Jahresbeginn nur ein Extrembeispiel. Bei der Deutschen Bahn, Telekom, selbst bei kirchlichen Pflegeverbänden oder Wohlfahrtsverbänden ist die Teilausgliederung von Belegschaften in eigene Leiharbeitsfirmen inzwischen gängige Praxis.

Wir brauchen endlich Regeln, die Leiharbeit begrenzen und fair gestalten. Unsere Forderungen sind klar: Gleiche Arbeit - gleiches Geld - gleiche Rechte. Leiharbeit darf nicht zum Abbau von Stammarbeitsplätzen führen. Sie muss zeitlich begrenzt sein und anständig bezahlt werden.

Die Reallöhne sind in Deutschland in den letzten 10 Jahren gesunken, während sie überall in Europa erheblich angestiegen sind. Und die deutsche Wirtschaft konnte nur solange Exportweltmeister sein, weil sie - auch aufgrund der Lohnentwicklung - konkurrenzlos billig war. Nur - liebe Kolleginnen und Kollegen - das geschah auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie gucken in die Röhre, denn die Gewinne streichen andere ein.

So sieht also das deutsche Jobwunder in der Krise aus: Billigjobs, endlose Befristungen, unsichere Leiharbeit, Dumpinglöhne. Alle Formen von Arbeit, die eben keine "gute Arbeit" sind. Das darf nicht so bleiben: Und wir erwarten, dass jede neue Landesregierung dafür ihren Beitrag leistet!

Mit einem entschiedenen Wort im Bundesrat und Richtung Berlin. Aber auch hier in NRW ganz konkret, wenn es darum geht öffentliche Aufträge zu verteilen!

Wir lassen auch nicht zu, dass à la Westerwelle Hartz IV-Empfänger gegen die Beschäftigten in prekärer Arbeit ausgespielt werden. Wir fordern Lösungen, die Lohndumping beseitigen und den Niedriglohnsektor eindämmen. Und dazu gehört dann endlich auch ein Mindestlohn! Per Tarifvertrag und per Gesetz. Und dieser Mindestlohn muss deutlich höher sein als 7,50 Euro! Davon kann doch keiner in Deutschland anständig leben!

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Anspruch auf gute Arbeit, Sicherheit und Perspektive für ihr Leben nach der Arbeit: Und deshalb werden wir der Politik auch weiterhin klar sagen, was wir von der Rente mit 67 halten.

Immer länger arbeiten, immer höhere Belastungen - während gleichzeitig die Arbeitsplätze für die jüngeren fehlen. Rentenkürzungen für alle, die nicht bis zum Schluss durchhalten - während viele der heutigen Rentnerinnen und Rentner jetzt schon nicht anständig von ihrer Rente leben können. Das geht so nicht: Alle die die Arbeitswelt kennen, wissen das. Und deshalb gibt es dazu von uns nur eine Antwort: Die Rente mit 67 gehört weg - und zwar besser gestern als heute!

Ausbildung: Widersprüchliche Meldungen gibt es zur Lehrstellenbilanz. In NRW haben rund 24.000 Jugendliche auch diesmal keine Lehrstelle bekommen. Nimmt man die Jugendlichen hinzu, die in den sogenannten Übergangssystemen der Berufskollegs und in den Maßnahmen anderer Träger stecken stecken, so sind es zusammen 60.000. Diese Situation ist nicht neu und bedeutet nichts Gutes für die Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft. Ich sage deutlich: Wer nicht ausbildet, darf sich auch nicht über den beginnenden Facharbeitmangel beklagen. Er macht sich mitschuldig daran, dass Jugendliche in die soziale Orientierungslosigkeit fallen, sich von diesem Staat abwenden, weil er ihnen keine Lebensperspektive vermittelt.

Und wenn nur noch 30 % der ausbildungsfähigen Betriebe ausbildet, dann genügen eben nicht nur öffentlich geförderte Qualifizierungsmaßnahmen, Beratung und Appelle an die Wirtschaft. Nein, dann ist es längst an der Zeit, dass auch die Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden, notfalls mit einer Ausbildungsplatzabgabe!

Armut: Armut hat in dieser Gesellschaft ein Gesicht, das Gesicht von Kindern. In NRW sind es fast 800.000 Kinder und Jugendliche unter 18, die in Armutsfamilien leben. Das sind mittlerweile ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen. Für sie bedeutet Armut neben materieller Entbehrung auch soziale Isolation, hohes Krankheitsrisiko und die Gefahr des Scheiterns im Bildungssystem.

Der Runde Tisch, an den die Landesregierung Verbände, Institutionen und Initiativen zusammengerufen hat, zeigt zwar den guten Willen aller Beteiligten. Aber ich sage deutlich: Runde Tische können die Probleme nicht lösen. Und mit Barmherzigkeit können wir nur die allergrößte Not lindern helfen.

Gemeinsam mit Wohlfahrtsverbänden und Kinderschutzbund fordern wir neben einer existenzsichernden Grundsicherung eine präventive Ausrichtung der Kinder und Jugendhilfe und des Bildungssystems. Von einer neuen Landesregierung erwarten wird, dass sie über eine Bundesratsinitiative sicherstellt, dass die angemessene Erhöhung der Regelsätze für Kinder nicht länter auf die Lange Bank geschoben wird.

Bildung: Bildung ist mit Recht ein zentrales Thema im gegenwärtigen Landtagswahlkampf. Denn nach wie vor liegen wir im internationalen Vergleich erheblich zurück. Mit Blick auf das Schulsystem kann man zusammenfassend sagen: Wir erzielen schwache Spitzenleistungen, verzeichnen eine hohe Quote (nämlich 25 %) von Bildungsverlierern. Und es gibt kein Land, in dem Schulerfolg so sehr vom Status des Elternhauses abhängig ist wie in Deutschland. Von Chancengleichheit also keine Spur. Eine bedrückende Bilanz!

Das muss sich ändern und die Politik aus Bund und Ländern hat uns ja im Herbst 2008 auf dem Dresdener Bildungsgipfel die Bildungsrepublik Deutschland versprochen und deutlich höhere Investitionen in Aussicht gestellt. 10 % des Bruttoinlandsprodukts sollen es sein. Das entspricht dem internationalen Durchschnitt. Nach unserer Berechnung wären das für NRW 8,8 Milliarden Euro jährlich mehr für Kitas, Schulen, Hochschulen und Weiterbildung. Unser Investitionsprogramm zeigt, dass wir das auch dringend brauchen, um in allen Bildungsbereichen grundlegend bessere Lernbedingungen zu schaffen. Solche, die international üblich sind, wie z.B. kleine Kitagruppen und kleine Klassen in den Schulen und Schaffung individueller Fördersysteme.

Natürlich erwarten wir von der künftigen Landesregierung, dass sie alles tut, damit dieses Geld auch Jahr für Jahr zur Verfügung steht. Ich sage das aus gutem Grund, denn schon seit geraumer Zeit sind Rechenkünstler am Werk, die die zugesagte Investition kleinrechnen.

Eine Investitionsoffensive für bessere Bildung ist das eine. Aber in NRW müssen wir auch den Kurs in der Schulpolitik grundlegend ändern. Denn das gegliederte Schulsystem hält internationalen Vergleichen nicht stand.

Kein Wunder: Denn Jahr für Jahr werden zigtausende Kinder aussortiert. Ausschlaggebend ist dabei allzu oft nicht das individuelle Leistungsvermögen, sondern die soziale Herkunft. So ist die Chance von Akademikerkindern 4,5 mal höher ein Gymnasium zu besuchen als die von Arbeiterkindern mit gleicher Intelligenz. Das zeigt: Dieses System ist von vorne bis hinten ungerecht, zumal es schlechte Ergebnisse produziert.

Manche Hauptschulen haben nur noch wenige Anmeldungen, müssten also längst geschlossen sein. Die meisten Hauptschüler gehen nicht freiwillig zur Hauptschule, sondern weil sie keinen Platz mehr an einer Gesamtschulen finden. Und wenn z.B. in Rheine 154 und in Saerbeck 132 Viertklässler, die dort in die Gesamtschulen aufgenommen werden wollen, auf Grund fehlender Kapazitäten abgewiesen werden mussten, so ist dies eine eklatante Missachtung des Elternwillens. Diese Kinder sind Opfer einer Bildungspolitik, die nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die Lebens- und Berufswirklichkeit sich schneller ändert als das Schubladendenken mancher Politiker.

Ich meine: Wir müssen integrieren anstatt zu selektieren! Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen endlich gemeinsam lernen lassen. Und von der zukünftigen Landesregierung erwarten wir deshalb, dass sie mit der Schulpolitik von vorvorgestern Schluss macht!

Steuerpolitik: Es gibt einen Gegensatz in dieser Gesellschaft, den wir dringend stärker skandalisieren müssen: den Gegensatz zwischen Arm und Reich. Das hat nichts mit Sozialneid zu tun, wenn wir skandalisieren, dass die Partei der Besserverdienenden, der Marktderegulierung und unbelehrbaren Zocker für ihre Klientel in aller Öffentlichkeit abräumt. Es kann nicht sein, dass Milliardensummen deutscher Steuerhinterzieher in Steueroasen verschwinden, während hier der Sozialstaat diffamiert wird.

Es kann auch nicht sein, dass die Politik der letzten Bundesregierungen fortgesetzt wird, die dazu geführt hat, dass der Staat sich arm gestellt hat und auf einkommensbezogene Steuern von Privaten und Unternehmen regelmäßig verzichtet. So sank der Spitzensteuersatz auf hohe Einkommen von 56 % in der Ära Kohl/Genscher auf 42 % in der Ära Schröder/Fischer.

Und inzwischen haben wir eine Steuerquote, die unter dem EU-Durchschnitt liegt. Lediglich in Griechenland, Polen oder der Slowakei werden noch weniger Steuern erhoben. Der Titel des jüngsten Gesetzes für Steuersenkungen: Wachstumsbeschleunigungsgesetz", mit dem den Kommunen und Ländern weitere Steuermilliarden entzogen wurden, ist schlicht ein Witz. Auch dieses Gesetz wird das Wachstum und die Dynamik hin zu mehr Einnahmen nicht beschleunigen, sondern es beschleunigt die Dynamik der öffentlichen Verarmung!

Mit dieser Politik muss Schluss sein! Denn die Situation der öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen zeigt doch, das wir nicht weniger sondern mehr Steuereinnahmen brauchen, um einen starken Sozialstaat zu gewährleisten: gute Bildung, sichere Renten, soziale Sicherungssysteme, die vor Armut schützen.

Zuallererst muss ein Riegel davor geschoben werden, dass sich Zocker und Spekulanten auf den internationalen Finanzmärkten weiter ungehindert austoben können, exorbitanten Gewinne einstreichen, und wenn es dann schief geht, wir dann womöglich ein weiteres Mal die Zeche zahlen müssen! Da sollte auch in Deutschland die Einführung einer Finanztransaktionssteuer selbstverständlich sein.

Weitere gewerkschaftliche Forderungen für eine sozial-gerechte Steuerpolitik liegen seit längerem vor. Dazu gehören neben einer Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes auch die längst fällige Einführung der Vermögenssteuer. Hätten wir sie wie in Großbitannien, so stünden für die Haushalte in Bund, Ländern und Gemeinden jährlich rund 90 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Und wenn wir auch nur die Durchschnittssteuerquote in der EU anlegen würden, ergäbe das 130 Milliarden Euro mehr.

Es gilt also immer noch der Satz: Geld ist in dieser immer noch reichen Volkswirtschaft zur Genüge vorhanden, es muss nur anders verteilt werden!

Schluss: Zur Landtagswahl sind Parteien angetreten, die mit rassistischer, fremdenfeindlicher Propaganda Hetze gegen Migrantinnen und Migranten betreiben. Mit unerträglichen, menschenverachtenden Parolen stilisieren dabei die multikulturelle Gesellschaft zum zentralen Feindbild.

Wir, die Gewerkschaften im deutschen Gewerkschaftsbund weisen mit Entschiedenheit alle Angriffe auf die Menschwürde zurück. Wir stehen für Vielfalt, und wir stehen für Respekt vor dem Glauben von Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Wir stellen uns quer gegen jegliche Demagogen. Ob sie den Solidargedanken mit Füßen treten, gegen Minderheiten hetzen oder alte Nazi-Parolen aufwärmen. Der 1. Mai ist seit mehr als 100 Jahren das Fest der Solidarität der Gewerkschaftsbewegung, hier in Deutschland und allüberall auf der Welt.

Für uns gibt es keinen Fußbreit Platz für alte und neue Nazis.


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